Kinder und Medien: im Gespräch mit…
Ein vollständiges Semester digital zu gestalten, hat mich nicht nur herausgefordert darüber nachzudenken, was Lehren und Lernen mit digitalen Werkzeugen, in digitalen Räumen und Symbolsystemen herausfordert, begünstigt oder auch verhindert, sondern auch darüber nachzudenken, was und wie ich etwas in analogen Räumen tue, wenn ich lehre.
Sowohl analog als auch digital erlebe ich es als sehr herausfordernd, Student*innen einzuladen, mit mir in Seminaren an aktuelle Diskurse anknüpfend über Kinder und Medien zu diskutieren. Doch in einer Videokonferenz ins Gespräch zu kommen, unterschiedliche Perspektiven auf eine Sache einzunehmen und davon ausgehend Bedeutungen und Vorstellungen, von denen wir in Bezug auf Kinder und Medien ausgehen, zu diskutieren und gemeinsam weiterzuentwickeln, ist nicht nur herausfordernd, weil es vielen Student*innen, die ich in Veranstaltungen erlebe, schwer fällt zu diskutieren, Differenzen und Uneindeutigkeiten auszuhalten, sondern weil hier von einem virtuellen Raum gesprochen wird, den alle betreten, um sich dort zu begegnen, der so nicht existiert.
Damit meine ich nicht, dass wir uns nicht wie in einem analogen Raum treffen, sondern dass kein virtueller Raum da ist, in dem wir uns begegnen. Deshalb ist es auch nicht möglich, wenn ich mich mit einer größeren Anzahl von Menschen in einer Videokonferenz befinde, in dieser jemandem zuzulächeln. Was wir in einer Videokonferenz sehen, sind Abbildungen von Räumen – wir öffnen Windows, also Fenster, Flächen mit Informationen, die der Computer übertragen kann. Und wenn ich jemandem zulächeln will, erscheint zwar in meinem Fenster mein Lächeln, aber es kann von den anderen Teilnehmer*innen nicht als an jemand Bestimmtes gerichtet gelesen werden – dafür muss ich in den Chat wechseln und ein Emoji verschicken.
Wir sind über das Senden von Informationen miteinander verknüpft; es entsteht ein Netz, vielleicht ein Knoten. Indem jedoch von einem Raum gesprochen wird, in dem Begegnung möglich ist, sind wir aufgefordert in unserer Vorstellung, die Abbildungen der einzelnen Räume zu einem Raum zusammenzusetzen. Möglicherweise ist das ein Grund für Zoom-Fatigue, vor allem aber lässt sich hier der gesellschaftliche Raum für kritische Diskurse und kollektive Bildung, den Universitäten in ihrer Präsenzform darstellen, als bedroht wahrnehmen, da er offensichtlich virtuell nicht nachgestellt werden kann.
Hinzukommt, dass sich nur senden bzw. übertragen lässt, was sich in den binären Code übersetzen lässt, also in Nullen und Einsen. Es handelt sich um eine Datenübertragung, also um die Übertragung eines „bestimmten Typus von Information über Realität…“ (Jörissen & Unterberg 2019, S. 16) Daten werden nach Jörissen und Unterberg in der Informatik u.a. definiert „als ‚alles, was sich in einer für die Datenverarbeitungsanlage, den Computer, erkennbaren Weise codieren, speichern und verarbeiten lässt, also abstrahierte und ‚computergerecht‘ aufbereitete Informationen‘ (Fischer/Hofer 2008). Hierbei geht es immer um Reduktion und Abstraktion von Informationen…“ (ebd.) Diese Reduktion und Abstraktion betrifft nach Drucker & Haas die Komplexität, die Mehrdeutigkeit und Situiertheit von Erfahrung und Wissen (vgl. Drucker & Haas 2017, S. 118); es wird also etwas von Erfahrungen und Wissen übertragen, aber eben nur das, was sich in Daten umwandeln lässt, die der Computer lesen kann.
Was mit der Schrift beginnt – die Möglichkeit, Erfahrung zu übergehen, weil Realität in Texten beschrieben wird, so dass es möglich wird, „sich nur mit Sätzen zu beschäftigen, ohne die hinter dem Satz liegende Realität betrachten zu müssen“ (Scholz 2005, S. 84) – setzt sich nach Scholz im so genannten Informationszeitalter fort: „die Welt in der Form aufzufassen, wie sie aufgeschrieben ist…“ (Scholz 1994, S. 117) Erkenntnisse sind demnach immer seltener auf direkte Erfahrungen zurückzuführen. Vielmehr wachsen „im Gegensatz zu dem aus unmittelbarer Erfahrung gewonnenen persönlichen Wissen […] die unpersönlichen Erkenntnisse aus objektiver Beobachtung, Aufzeichnung von Folgerungen und darauf aufbauenden Hypothesen und Theorien und Experimenten […] immer weiter an.“ (Laing 1983, S. 19f.) Schon die von Wissenschaftler*innen scheinbar objektiv beschriebene Welt „ist nicht die Welt des realen Lebens. Sie ist ein äußerst kompliziertes Kunstprodukt, geschaffen in vielfältigen Operationen, die die unmittelbare Erfahrung in ihrer ganzen scheinbaren Unzuverlässigkeit aus ihrer Gedankenfolge wirkungsvoll und wirksam ausschließt.“ (ebd., S. 22) Und jetzt kommen Beschreibungen von Welt aus dem Computer, bzw. kommt aus dem Computer das, was der Computer von den Beschreibungen verarbeiten kann.
Es lässt sich davon ausgehen, dass Technologien unsere Erfahrungs- und Handlungsmuster verändern und damit uns und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. (Vgl. Jörissen & Unterberg 2019, S. 13) Das betrifft auch pädagogische Praxis und unsere Vorstellung von ihr. So stellt Jörissen fest, dass „der etablierte dialektische oder interaktionistische Blick Bildung als Prozessgeschehen im Verhältnis von ‚Subjekt und Welt‘, ‚Individuum und Gemeinschaft‘ oder auch ‚Identität und Gesellschaft‘ […] sich nicht ohne weiteres auf die relationale Netzwerklogik von ‚Knoten und Kanten‘ übertragen [lässt].“ (Jörissen 2016, S. 233f)
Jörissen und Unterberg weisen darauf hin, dass Digitalisierung nicht nur die Art und Weise verändert, wie wir miteinander umgehen, sondern mit ihr neue Ästhetiken, Materialitäten und Räume entstehen. „Von der unbewussten Datenspur über das Selfie, vom Youtube-Channel bis zum ‚Quantified Self‘, das sein Selbstverhältnis als Zahlenverhältnis gestaltet und Anerkennung in ‚Likes‘ misst, verbinden sich diese Momente des Digitalen, Ästhetischen und der Identität.“ (Jörissen & Unterberg 2019, S. 20) Die Autorin und der Autor sind der Ansicht, dass kulturelle Bildung einen „Zugang zum ästhetischen Urteil über das digitalisierte Alltagsleben und damit Möglichkeiten der Positionierung [schaffen kann].“ (ebd., S. 20) Lehrende an Hochschulen rufen aber auch zur Verteidigung der Präsenzlehre auf, weil sie die analoge Begegnung bedroht sehen: „Wissen, Erkenntnis, Kritik, Innovation: All dies entsteht nur dank eines gemeinsam belebten sozialen Raumes. Für diesen gesellschaftlichen Raum können virtuelle Formate keinen vollgültigen Ersatz bieten. Sie können womöglich bestimmte Inhalte vermitteln, aber gerade nicht den Prozess ihrer diskursiven, kritischen und selbständigen Aneignung in der Kommunikation der Studierenden.“ (Zur Verteidigung der Präsenzlehre)
Literatur
Drucker, Johanna & Haas, Annika (2017). Digital Humanities als epistemische Praxis. Zeitschrift für Medienwissenschaft, 16(1)/2017. S. 114-124.
Jörissen, Benjamin (2016). „Digitale Bildung“ und die Genealogie digitaler Kultur: historiographische Skizzen. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 25/2016. S. 26-40.
Jörissen, Benjamin & Unterberg, Lisa (2019). Digitalität und kulturelle Bildung. In: Jörissen, Benjamin; Kröner, Stephan & Unterberg, Lisa Hrsg.). Forschung zur Digitalisierung in der Kulturellen Bildung. Online unter: https://www.kubi-online.de/sites/kubi8/files/documents/Joerissen_Kroener_Unterberg_2019_Forschung_zur_Digitalisierung.pdf. S. 11-24.
Laing, Ronald D. (1983). Die Stimme der Erfahrung. Erfahrung, Wissenschaft und Psychiatrie. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Scholz, Gerold (1994). Die Konstruktion des Kindes. Über Kinder und Kindheit. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Scholz, Gerold (2005). Ökonomisierung des Lernens – ein Essay als Collage. In: Westphal, Kristin (Hrsg.): Zeit des Lernens. Perspektiven auf den Sachunterricht und die Grundschulpädagogik. Beiheft Nr. 2 von widerstreit-sachunterricht.de 2005. Frankfurt a. M. S. 67-96.
Zum Thema Kinder und Medien habe ich für meine Veranstaltungen an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg drei Gespräche aufgenommen, die ich hier teilen möchte. Sie führten bisher in Videokonferenzen mit Student*innen nicht zu lebhaften Diskussion, aber zu erstaunlich engagierten schriftlichen Rückmeldungen, und ich ahne, dass es in einem analogen Raum lebhafte Diskussionen zu und über die Gespräche geben würde…
Im Gespräch mit…
Im Gespräch mit…
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